Durch meine Arbeit kenne ich inzwischen menschliche Abgründe in jede Richtung und bin echt schwer zu schockieren. Mir haben Menschen erzählt, wie sie als Kind grün und blau geprügelt wurden bis die Stöcke brachen, wie sie wiederholt missbraucht, vergewaltigt, ausgesetzt und tief gedemütigt wurden. Heute habe ich mich mit einer Frau unterhalten, deren Leben bisher an Sadismus kaum zu überbieten ist und an vielen Punkten meine Vorstellung von Grausamkeit übertrifft.

Warum schreibe ich dir das?

Damit du leidest, weil die Welt so schlecht ist? Nein, denn durch Mit-Leiden wird die Welt kein Stück besser, das Erlebte wird weder ungeschehen gemacht noch ist es für die Betroffenen eine Lösung, ihre Erlebnisse gesünder zu verarbeiten. Damit du gefälligst dankbar bist und aufhörst zu jammern, weil es dir weniger schlecht geht? Kein Stück! Für jeden ist sein Problem, seine Herausforderung, in der er gerade steckt und keinen Ausweg sieht, die wichtigste und persönlich schlimmste. Und Gott sei Dank gibt es keinen Wettbewerb, wen es am härtesten getroffen hat! (Bzw. betreiben einige Menschen durchaus einen Wettkampf, wem es am schlechtesten geht, nur dient  das dem Ziel, ein glückliches, erfülltes Leben zu führen, zweifellos nicht…)

Ich schreibe dir das, weil wir in jedem Moment die Freiheit haben, jede Erfahrung aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen und ich dich einladen möchte, den Blickwinkel des Mit-Leids (bzw. der Verurteilung und Wut) einzutauschen und stattdessen mit Mitgefühl die Chancen der Erfahrungen zu sehen. Vielleicht tust du das längst, dann weißt du, wovon ich rede.

Ich saß dieser Frau heute gegenüber und war tief beeindruckt von der Kraft und der Würde, die aus ihr strahlen. Ich finde, es verdient allein schon höchste Achtung, dass sie überhaupt noch lebt und jeden Morgen aufsteht. Sie hätte ihr Leben auch  beenden können. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihre Geschichte hätte tragen können. Darüber hinaus bekommt diese Frau ihren Alltag offensichtlich sehr gut auf die Reihe und hat mit unglaublicher Liebe und Wärme von ihrer Tochter gesprochen. Wo nimmt ein Mensch, der nie selbst Liebe und Geborgenheit erfahren hat, diese Güte für einen anderen Menschen her?

Wir wollen miteinander arbeiten und ich wünsche mir sehr, dass wir es gemeinsam schaffen, dass sie sich selbst so sieht, wie ich sie sehe: eine faszinierende Frau mit Kraft für zehn, einem riesigen Herzen voller Liebe und Mitgefühl und ganz klaren Werten für den Umgang mit ihren Mitmenschen. Selbstliebe wird ihr großes Thema sein. Ich möchte ihr dabei helfen, ihre tief sitzenden Überzeugungen, sie sei an allem schuld und beziehe ihre Existenzberechtigung allein daraus, der Prellbock für ihre Mitmenschen zu sein, als unwahr zu erkennen und umzuprogrammieren. Wenn sie das schafft – und da bin ich ganz sicher, dass sie das schaffen kann und wird – durchbricht sie eine Familiengeschichte, die sich über die letzten Generationen hinzieht. Immer litt die einzige Tochter der Familie. Dieses Mal ist es anders, diese Frau und ihre Tochter durchbrechen das Familienmuster und beiden  wird die Vergangenheit eine Erinnerung daran seid, dass sie es anders machen.

Menschen wie sie gibt es viele. Frauen und Männer mit heftigsten  schmerzhaften Erfahrungen, die trotz allem (oder deswegen?) über sich hinauswachsen, die Liebe in sich finden und sie an andere weiterschenken. Menschen mit unheimlicher Kraft, großem Verständnis und Mitgefühl für andere.

Versteh mich nicht falsch.. ich sage nicht, mache einen Luftsprung und sei  begeistert, wenn du geprügelt oder missbraucht wurdest, nur weil du dadurch deine Werte und die in dir wohnende Kraft entdecken kannst. Das macht solche Erlebnisse nicht „richtiger“ oder hebt sie in irgendeiner Form auf. Es ist schöner, wenn wir uns unserer Kraft bewusst sein können ohne vorher zu leiden.

Allerdings leben wir in einer polaren Welt und der Wunsch nach Frieden entsteht im Krieg. Wenn du Gewalt und Kälte zur Genüge kennst, sehnst du dich nach Liebe und Wärme und weißt genau, was du willst und was nicht (mehr).

Wenn es so ist, dass demütigende, verletzende, grausame Erlebnisse unleugbarer Teil deiner Lebensgeschichte sind, dann nutze deine Chance, damit Frieden zu schließen, indem du anfängst, das Geschehene als gegeben zu akzeptieren und deine Entwicklungsmöglichkeiten darin zu erkennen. Was willst du, wo willst du hin, was sind deine Werte? Und welche Stärken hast du in und durch deine Erfahrungen entwickelt?

Du hast die Wahl, wie du mit dem Erlebten umgehst und wie dich deine Vergangenheit prägt! Lebst du ein verbittertes, wütendes, bedauerndes Leben? Oder steigst du auf wie Phoenix aus der Asche und machst es gerade, weil du die schmerzhafte Seite kennst, besser, bist ehrlicher, liebevoller, großmütiger?

Phönix aus der Asche

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