(Fortsetzung von 2.1)

Wenn die eigene Körperwahrnehmung so gut geschult ist, dass du erkennst, dass eine deiner Grenzen (gleich) erreicht ist, ist der nächste Schritt, dir selbst zu erlauben, diese Grenze auch zu setzen und zu vertreten. Das klingt vielleicht im ersten Moment banal und selbstverständlich, stellt aber im Alltag oft eine Herausforderung dar.

Auch das möchte ich dir am Beispiel einer der Übungen aus unseren Kursen zeigen: 2 Teilnehmer, Lara und Sina (*), stehen sich in einer Entfernung von mehreren Metern gegenüber. Lara bleibt stehen, schätzt zu Beginn ihre persönliche Grenze ein und kommuniziert diese. Wie weit darf Sina auf sie zukommen und wo ungefähr soll Sina stehenbleiben, damit sich Lara mit dem Abstand zwischen beiden noch wohl fühlt? Wenn Lara das Startzeichen gibt, geht Sina langsam auf sie zu, bereit, bei Laras „Stop“ sofort stehen zu bleiben.

Da unsere Lara inzwischen gelernt hat, ihre innere Alarmanlage wahrzunehmen und ihre Grenze rechtzeitig erkennt, ist die Aufgabe jetzt „nur“ noch, Sina  gegenüber Stop zu sagen.

In der Theorie ist das einfach, in der Praxis kommen sichtbare Bedenken. An der Art, wie Lara Stop sagt, lässt sich erahnen, wie schwer oder leicht es ihr fällt, ihre Grenze auszudrücken.  (Der Einfachheit halber beschreibe ich die extremen Ausprägungen.)

Die wenigsten Laras teilen ihr Stop freundlich, souverän, klar, deutlich und in  aufrechter Haltung mit (–> innere Überzeugung: „Ich habe ein Recht auf meine persönlichen Grenzen und gehe davon aus, dass diese akzeptiert werden.“).

Manche Laras lehnen sich in ihrer ganzen Körperhaltung zurück, beschwichtigen mit einem devensiven Lächeln, fangen an zu kichern oder an ihrer Kleidung zu nesteln und hauchen ein zögerliches, entschuldigendes „Stop???“, wenn Sina die vorher angezeigte Grenze längst überschritten hat (–> innere Überzeugung z.B.: „Wenn ich meine Grenze setze, ist Sina enttäuscht / verletzt / sauer auf mich und mag mich nicht mehr. Meine Grenze zu setzen wäre egoistisch / unhöflich / gehört sich nicht/ steht mir nicht zu. Das Ausdrücken meiner Grenzen führt zu Konflikten und Ablehnung. Schutzstrategie: Flucht.).

Andere Laras machen einen Ausfallschritt auf Sina zu, strecken einen oder beide Arme  in Abwehrhaltung nach vorne und sagen mit entschlossenem, angespannten Gesichtsausdruck fast bedrohlich laut „STOP!!!“ (innere Überzeugung z.B.: „Meine Grenzen werden sowieso wieder nicht respektiert. Entweder ich bin absolut unmissverständlich deutlich oder ich werde übergangen. Schutzstrategie: Trotz, „Angriff ist die beste Verteidigung“).

Natürlich gibt es auch noch die Laras, die sich in Oppossum-Manier totstellen und so gelähmt sind, dass sie überhaupt kein Stop herausbekommen. Würde Sina nicht von selbst stehen bleiben, könnte man diese Laras in der Übung umrennen (innere Überzeugung: ähnlich wie bei der Flucht-Strategie, aber in diesem Fall sind die Erfahrungen mit Grenzverletzungen wahrscheinlich noch schmerzhafter gewesen und Grenzensetzen als gefährlich abgespeichert.).

Wenn wir diese Übung auf den Alltag übertragen, wird schnell klar, dass es zum Einen natürlich zwischen den beschriebenen Extremen eine ganze Bandbreite an abgeschwächteren Reaktionen gibt. Und zum Anderen kann Lara wahrscheinlich unterschiedlich reagieren, je nachdem, ob die/der entsprechende „Sina“ Mutter, Chef, Partner, Freundin usw. ist.

Ein paar Alltagssituationen:

  • Eine Studentin brachte in einem Workshop auf die Frage nach schwierigen Erfahrungen das Beispiel, dass eine Freundin ihren kleinen Sohn aufforderte, sich bei den Gästen mit einem Küsschen für die mitgebrachten Geburtstagsgeschenke zu bedanken. Die Studentin wollte keinen rotzverschmierten, kuchenkrümeligen Kuss vom Sohnemann der Freundin, traute sich aber nicht, das zu sagen. Sie hatte die Befürchtung, dass sich der Junge abgelehnt fühlt; Angst davor, die Freundin zu verletzen, die möglicherweise schlussfolgern könnte, sie würde ihren Sohn nicht mögen; Bedenken, dass alle anderen Gäste sie für ein unsensibles, kinderhassendes Monster halten 😉 .  – Also hat die Studentin in dieser Situation ihre Grenze gar nicht erst formuliert und sich selbst übergangen.

 

  • Die Oma zieht bei jedem Besuch ihre 7jährige Enkelin auf ihren Schoss, um sie liebevoll in die süßen Bäckchen zu kneifen, sie an den großmütterlichen Busen zu drücken und zu knuddeln. Der Enkelin sieht man die fehlende Begeisterung auf zehn Meter an, sie hat da offensichtlich keine Lust drauf, fügt sich aber, weil Mama und Papa gesagt haben, „die Oma wäre ganz, ganz traurig und enttäuscht, wenn sie nicht mehr knuddeln und kneifen darf. Ist ja außerdem auch nicht so oft…“.  – Das Kind zeigt auf die ihm mögliche Art seine Grenze, erlebt aber, dass das nicht ernst genommen und übergangen wird.

 

  • Der fleißige Mitarbeiter Heinz war heute extra früher im Büro, hat die Mittagspause verkürzt und besonders schnell gearbeitet, um am Nachmittag wie abgesprochen eher zu gehen, damit er  pünktlich zum Klassentreffen kommt. Als er rechtzeitig fertig ist, biegt ein Kollege um die Ecke und bittet darum, ob der Heinz nicht mal eben noch fünf Minuten hätte, um noch ganz kurz bei ein, zwei Kleinigkeiten zu helfen. Heinz will kein Kollegenschwein sein und hilft. Anschließend fällt dem Chef auch noch etwas sehr Wichtiges ein, was nicht bis morgen warten kann. Heinz wagt einen vorsichtigen Versuch, an die Absprache zu erinnern, macht aber beim angedeuteten Stirnrunzeln seines Chefs sofort einen Rückzieher. Möglicherweise ist sein Vorgesetzter sauer auf ihn, im schlimmsten Fall versaut er sich damit jegliche Aufstiegschancen oder gefährdet gar seinen Job. – Seine eigenen Ängste und Überzeugungen hindern Heinz daran, seine Grenze deutlich zu vermitteln.

 

  • Schwiegermutter Elisabeth setzt mit entrücktem Gesichtsaudruck an, Nele mit der gefühlten 1017. Wiederholung einer amüsanten Geschichte „von früher“ ein Ohr abzukauen. Nele unterbindet das sofort sehr energisch, faucht ihre Schwiegermama an und verlässt den Kaffeetisch. Nachdem später die Wut verraucht ist, stellt sich das altbekannte schlechte Gewissen ein. „Ein bisschen unhöflich und undankbar war das ja schon, aber was soll ich machen, auf normale Kommunikation hört Elisabeth ja nicht..“. – Nele gesteht sich zwar ihre Bedürfnisse und Grenzen zu, glaubt aber nicht daran, dass deren Akzeptanz friedlich möglich ist.

Weitere Beispiele überlasse ich deiner Phantasie  / deinen Erinnerungen.

Wie ist es denn möglich, die eigene Grenze freundlich und klar zu kommunizieren? Wie bei allen Themen, über die ich schreibe, kommen wir nicht um die Begriffe „Verantwortung“ und „Glaubenssätze“ herum.

Jeder erwachsene Mensch ist selbst verantwortlich dafür, welche seiner Gedanken er glaubt, wie er sich fühlt und was er tut oder unterlässt!

Die Oma in unserem Beispiel ist selbst verantwortlich dafür, wie es ihr geht. Wenn sie traurig und enttäuscht darüber ist, dass ihre Enkelin nicht mit ihr kuscheln möchte, ist es ihre Aufgabe als Erwachsene zu überprüfen, was genau sie daran traurig macht (möglicherweise der Gedanke „Wenn meine Enkelin nicht mit mir kuscheln möchte, hat sie mich nicht lieb.“ –> diese Annahme macht die Oma traurig, muss aber noch lange nicht der Wahrheit entsprechen! Das kann durchaus ein klassischer Fall von Fehlinterpretation sein.). Sinnvollerweise findet die Oma generell einen für sich gesunden Weg, um mit Traurigkeit und Enttäuschung umzugehen. Es ist definitiv nicht der Job der 7jährigen Enkelin oder ihrer Eltern dafür zu sorgen, dass die Oma gut drauf ist. (Und, by the way, wenn die körperlichen Grenzen eines Kindes innerhalb der Familie nicht anerkannt werden – wie soll das Kind dann verstehen, dass es bei anderen Nein sagen darf und soll?!).

Wenn du glaubst, du bist durch die Tatsache, dass du deine Grenze benennst, dafür verantwortlich, dass dein Gegenüber verletzt, gekränkt, sauer etc. ist, übernimmst du die Verantwortung für die Gefühle des Anderen. Die werden jedoch nicht durch dein Verhalten, sondern durch die gedankliche Bewertung deines Verhaltens durch den Anderen ausgelöst (was für dich jetzt aber auch kein Freifahrtsschein ist, dich wie ein Trampel zu benehmen 😉 ). Verkneifst du dir aus der Angst vor den möglichen Reaktionen heraus deine Grenzen zu formulieren, gibst du deine Eigenverantwortung für deine Gedanken, deine Gefühle und dein Handeln ab.

Glaubst du, dein Stop in einer Situation führt dazu, dass dein Gegenüber verletzt ist, erlaubst du dir deine Grenze vielleicht gar nicht erst, verzichtest darauf und übergehst / verrätst dich (möglicherweise wirfst du genau das dem Anderen in einem schwachen Moment vor).

Eine Beschäftigung mit deinen Überzeugungen rund um die Grenzen von dir und anderen, ist auf zwei Ebenen sinnvoll:

1. Du kannst erforschen, wie deine bisherigen Erfahrungen aussehen: wurde akzeptiert und geachtet, wenn du in verschiedenen Bereichen Stop gesagt hast oder wurde dein Stop belächelt, ignoriert, bestraft, ausgelacht, …?

Wurdest du ermutigt, freundlich und klar zu sagen, was du willst und was nicht oder solltest du dich eher anpassen, dich höflich und korrekt verhalten, bescheiden und niemals undankbar und egoistisch sein?

Was sind die ersten Worte, die dir zu „Grenzen setzen“ einfallen?

Fühlst du dich gut und ausgeglichen, wenn du dich mit dem Thema beschäftigst oder löst das Wort Grenzen eher Beklemmungen und unangenehme Gefühle aus? Wie reagiert dein Körper? …

Dadurch kannst du erkennen, wie deine Basisüberzeugungen über Grenzen aussehen und ob du unterbewusst davon überzeugt bist, dass deine Grenzen im Allgemeinen eher anerkannt oder eher missachtet und übergangen werden.

Andersherum: Wie ging / geht es dir damit, wenn dir jemand Grenzen setzt? Ist das in Ordnung für dich oder fühlst du dich persönlich angegriffen, zurückgestoßen, abgelehnt, verletzt, …? Auch das zeigt dir, wie du Grenzen an sich bewertest.

Und 2.: Wenn es dir in bestimmten Situationen schwer fällt, zu deinen Grenzen zu stehen, überprüfe deine Überzeugungen zu dieser Situation. Übernimmst du die Verantwortung für die Interpretationen und Gefühle von Anderen? Gibst du die Verantwortung für deine Gedanken und Gefühle an dein Gegenüber ab? Stellst du die Bedürfnisse von Anderen über deine eigenen (was okay wäre, solange es kein Selbstverrat ist)?

Erst wenn du völlig klar deine Verantwortung für dich übernimmst und die Verantwortung der Anderen bei ihnen lässt, kannst du dir selbst erlauben, zu deinen Grenzen zu stehen und sie souverän und friedlich zu formlieren. Mehr dazu sowie Lösungsideen für die Studentin, Heinz und Nele dann in einem späteren Beitrag 🙂

 

 

 

(*) Ich wähle zwei weibliche Namen, weil ich diese Übung bisher vor allem in Mädchen- und Frauenkursen durchgeführt habe. Selbstverständlich laufen bei Jungs und Männern die gleichen Strategien und Mechanismen ab.

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